June 8, 2022

Tränen am Tempel

Matthias Mueller

Nach Utrecht, Toronto, Sankt Louis, Atlanta, San Antonio und nun wieder in Sankt Louis ist dies die sechste Generalkonferenz, an der ich in teils unterschiedlichen Funktionen teilnehme. Jede der vergangenen Weltsynoden hatte ihr eigenes Gesicht.

Diese Generalkonferenz in St Louis ist in mehrfacher Hinsicht anders. Es gibt keine Ausstellung (Messe), die viele Aktive und Besucher anzog. Wir sind immer noch nicht aus der Pandemie heraus. Morgen steht für uns, die wir „hinter den Kulissen“ arbeiten, wieder ein Covid-19-Test an, was in der gegenwärtigen Lage natürlich zu begrüßen ist. Einer meiner hier mitarbeitenden Kollegen hat Corona in der ersten Welle nur knapp überlebt, aber Familienangehörige verloren. Bedingt durch Coronaerkrankungen konnten eine ganze Anzahl Delegierter nicht anreisen, auch deutsche waren betroffen. Es ist eine sogenannte Hybridveranstaltung, d.h. Delegierte sind per Zoom zugeschaltet. Das verändert die Dynamik ebenso wie der Umstand, dass diese Konferenz kürzer als die anderen ist. Man merkt es an den wiederholten Hinweisen seitens der Tagungsleitung, dass man aus Zeitgründen doch bitte …

Warum ist die Halle so leer?

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Jemand hat mich aufgrund meiner Berichte gefragt, wieso so viele leere Plätze zu sehen sind. Auf den Fotos sieht man, dass die zentrale Fläche in Sitzblocks aufgeteilt ist. Jeder dieser Blocks hat 420 Plätze. Wenn man Raum für die Übertragungstechnik und die Gehörlosenübersetzung mit einbezieht, ist klar, dass von den 20 Blocks durch die anwesenden rund 2.000 Delegierten nur ein Viertel die Hälfte besetzt sein können.

Im Unterschied zu anderen Konferenzen, wo morgens schon die Massen in die Halle strömten, bleiben jetzt die weitläufigen Gänge leer, die Ränge sind unbesetzt. Wer nicht anreisen konnte, hat logischerweise auch seine Familie nicht mitgebracht. Während der morgendlichen Testabstimmungen mit allgemeinen Fragen kam heute heraus, dass rund die Hälfte der Delegierten mit Familie angereist ist. Sheri Clemmer, die Hauptorganisatorin der vergangenen und dieser Konferenz(en) sagte mir im Gespräch, dass die geringe Teilnehmerzahl sehr stark mit Covid-19 zusammenhängt, denn zunächst hieß es, dass niemand in die USA einreisen dürfte. Dann wurde es „auf eigenes Risiko“ geändert, bis die völlige Öffnung relativ spät für den Planungsprozess kam. Außerdem hob sie hervor, dass die Ausstellung zu einem erheblichen Teil Standbetreuer, deren Familien und Konferenzbesucher gebracht hätte. Zurzeit sind wir hier ungefähr 3.000 Leute. Vor sieben Jahren in San Antonio waren es laut Clemmer zur selben Zeit ungefähr 60.000.

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Kaum noch freie Plätze im Alamodome am abschließenden Sabbat der 60. Weltsynode der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten, San Antonio, Texas, USA, 11. July 2015 | Foto: Pieter Damsteegt, Adventist Media Exchange (CC BY 4.0)

Wir sind eben – wie auch in vielen Gemeinden – in einer anderen Welt aufgewacht. Ich musste unwillkürlich an die Israeliten denken, die der Prophet Haggai nach dem Exil so ansprach: „Wer ist unter euch noch übrig, der dies Haus in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? Und wie seht ihr’s nun? Sieht es nicht wie nichts aus? (Hag 2,1-4). Esra berichtet in Kapitel 3,12 sogar davon, dass viele  Leute bei der Grundsteinlegung für den neuen Tempel jubelten, aber die Älteren weinten. Dafür gab es Gründe.

Das „America’s Center“ ist eine gut ausgestatte Sporthalle, die mit Hilfe ausgeklügelter Technik auch in eine Konferenzhalle umgewandelt werden kann. Sie besteht aus 6 Etagen, die bei entsprechenden Sportereignissen vor Zuschauern brummen. Ungefähr 70.000 Menschen können sich hier versammeln. Ich vermute, dass wir auch am abschließenden Sabbat die Halle nicht füllen werden. Bei vorherigen Generalkonferenzen wurde die Stimmung abends, wenn sich die verschiedenen Delegationen mit Berichten und Nationaltrachten vorstellten, oft volksfestartig stimmungsfroh und manchmal geradezu ausgelassen. Bedingt dadurch, dass es eine Hybridveranstaltung ist (gab es dieses Wort vor 2020 schon?) und man auf diverse Zeitzonen Rücksicht nehmen muss, sind die Berichte der verschiedenen Weltregionen auf den Freitag konzentriert. Statt festlicher Abende wird jetzt bis in den Abend hinein gearbeitet und abgestimmt, und die farbenfrohe Seite ist auf den Freitag verlegt, der sich in adventistischer DNA eher nach Stress anfühlt.

Das Motto

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Dwight Nelson während seiner Andacht bei der 61. Weltsynode in St. Louis vor dem Konferenzmotto, Jerry Page und Mark Finley im Hintergrund | Foto: Matthias Müller

Die Gesamtthematik dieser Weltsynode bleibt wieder zukunftsorientiert, wie es in der Vergangenheit auch der Fall war. Aber der Schwerpunkt sitzt anders. Letztes Mal hatte die Leitung um Ted Wilson bewusst einen Ton des Bedauerns und der Reue über die Veranstaltung gesetzt. Man bezog sich dabei auf eine Formulierung von Ellen White, nach der, wenn die Adventisten in ihrer Glaubensentwicklung weiter gewesen wären, Jesus schon längst wieder gekommen wäre. Diesen Gedanken habe ich bei dieser Konferenz noch nicht gehört. Bei der Konferenz in San Antonio saß ich beim Mittagessen einer amerikanischen Glaubensschwester gegenüber, die in ihren Neunzigern war. Sie erzählte mir, dass sie eigentlich nicht noch einmal zu einer Generalkonferenz fahren wollte. Aber man hatte ihr versichert, dass dies die letzte sei. Und so hatte sie sich dann doch noch einmal auf den Weg gemacht. Jetzt sind wir sieben Jahre weiter und ich vermute, das die liebenswürdige Glaubensschwester inzwischen zur Ruhe gelegt ist. Das nächste, was sie erlebt, ist der wiederkommende Herr. Darauf zielt auf dieser Veranstaltung das Motto. Es lautet nicht von ungefähr „Jesus is coming“ - „Jesus kommt“, wird aber durch den Aufruf „Get involved“ ergänzt. Dieses „Get involved“ kann man verschieden übersetzen, z.B. mit „Sei dabei“ oder „Bring dich ein“, „Mach mit“. Zumindest im Deutschen ist diese Kombination potenziell missverständlich, denn die Wiederkunft Jesu liegt in seiner Hand und ist nichts, wo wir uns einzubringen hätten. Auch wenn Petrus nach der alten Luther-Übersetzung schreibt, dass wir „warten und eilen“ sollen auf die Wiederkunft, teile ich nicht die Überzeugung, dass wir mit unserem Verhalten die Wiederkunft beschleunigen. Es sind andere Faktoren als unser Tun, nach denen Gott entscheidet, wann der Zeitpunkt gekommen ist. Bei keinem seiner Endzeit-Gleichnisse regt Jesus zu mehr Eifer an, damit etwa der Hausherr schneller wiederkommt, wohl aber ruft er zur Wachsamkeit und dem Einsatz für andere auf. Zudem gibt es nicht nur in unserer, sondern auch in anderen Kirchen einschlägige Erfahrungen mit Zeitfestsetzungen.

Die Zukunft im Blick

Dieses Mal habe ich das Empfinden, dass der Grundton ein wenig mehr auf dem Gestalten der Zukunft liegt. Man ist sich bewusst, dass es viel zu tun gibt (auch wenn z.B. die Frage nach der Verantwortung für die Umwelt vorerst kein Gehör fand. Dabei ruft die so oft zitierte dreifache Engelsbotschaft geradezu danach und es tut der Kirche gut, wenn sie den Kontakt zu den Realitäten in dieser Welt nicht verliert). Die offenkundigen Krisen verstärken das Empfinden der Naherwartung. Aber da seit dem schicksalsträchtigen Jahr 1844 nun schon 178 Jahre in der Naherwartung inklusive vielen Krisen vergangen sind, schwingt auch das Bewusstsein mit, dass sich die Dinge noch hinziehen können.

Bei aller sogenannten „Stetsbereitschaft“ haben Ältere, die so wie ich auf eine lange Gemeindemitgliedschaft zurückschauen, das Empfinden: Es ist richtig, Pläne für die Zukunft zu legen. Ich erinnere mich, wie ich Anfang der 1970er Jahre während meines Theologiestudiums im Gespräch mit meinen Kommilitonen die Frage aufwarf, ob es überhaupt sinnvoll sei zu heiraten, wo doch der Herr bald kommt. Inzwischen sind ein paar Jahre ins Land gegangen und kürzlich hat mich mein Enkel (!) im Auto chauffiert. Wir wissen nicht, wann und wie genau sich unsere Hoffnung auf die Wiederkunft erfüllen wird. Nicht umsonst verwendet Jesus das Bild von einem Blitz. Gerade in der deutschen Geschichte haben wir erlebt, wie rasant sich Dinge verändern können. Dennoch ist es ratsam für Leute in Leitungsverantwortung, den langen Blick in die Zukunft zu werfen und auf beides eingestellt zu sein: der Herr kann morgen kommen und es kann noch Jahre dauern. Insofern hatte Erton Köhler recht, als er während seines Berichtes darauf verwies, dass die Struktur der Kirche flexibel bleiben müsse, um sich verändernden Bedürfnissen anzupassen. Ob sein Zugeständnis der Langsamkeit in einer schnelllebigen Zeit standhalten kann, wird sich zeigen. Wenn ich mich hier umhöre, stelle ich fest, dass die jüngere Generation mit den Hufen scharrt. Es wird Zeit, dass sie loslegen dürfen. Immerhin hatte Haggai ja auch gesagt: „Aber nun, Serubbabel, sei getrost, spricht der Herr.“

Matthias Müller

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