Ich beobachte bei dieser Generalkonferenz-Vollversammlung, wie auch bei den anderen zuvor, dass viel Zeit der Delegierten in die Bearbeitung von Dokumenten fließt, entweder den „Constitutions and Bylaws/Working Policy“ (Verfassung und Kirchenregularien) oder dem „Church Manual“ (Gemeindehandbuch). Das ist eine sehr wichtige Arbeit, denn Zeiten und Begrifflichkeiten ändern sich. Manche Formulierungen sind einfach veraltet oder wir haben uns in der Gemeindepraxis von der Verwendung bestimmter Begriffe entfernt. Ein älteres Beispiel dafür ist die Ersetzung von „Gemeindezucht“ durch „Korrigierende Seelsorge“. Solche Begriffsanpassungen werden immer wieder vorkommen und werden gebraucht. Es ändern sich auch rechtliche Rahmenbedingungen, denen Rechnung getragen werden muss.
Regeln geben Sicherheit und man muss dadurch das Rad nicht immer wieder neu erfinden, wenn man vor schwierigen Entscheidungen steht. Es entlastet die Leitung auf allen Ebenen. Man kann bei Bedarf auf ein Referenzwerk zurückgreifen, wo Vorgehensweisen beschrieben werden, die für jeden gleich gelten. Gerade darum ist es wichtig, dass solche Regeln mit einem breiten Konsens geschaffen und gestaltet werden. Das Regelwerk dient auch zum Schutz vor Übergriffen durch die Leitung und kann sogar rechtliche Bedeutung staatlichen Stellen gegenüber haben.
Hier taucht jedoch eine erste Herausforderung auf, denn es ist nicht einfach, Regeln aufzustellen, die weltweit für alle Kulturen gleichermaßen gelten. Das zeigt auch die Diskussion während dieser Generalkonferenz. Selbst in sprachlicher Hinsicht tritt das zutage, weil es in manchen Sprachen gar kein echtes Gegenüber für einen englischen Begriff gibt (englisch ist die Hauptsprache der Kirche, auch diese Generalkonferenz läuft auf Englisch). Manchmal benutzen wir Begriffe, mit denen Nichtchristen nur wenig anfangen können. Ein Beispiel, das ein Delegierter aus Island in der Diskussion nannte, ist der Begriff „discipleship“, für den es in Island keine Entsprechung gibt. In der deutschen christlichen Szene hat sich dafür die Übersetzung „Jüngerschaft“ entwickelt. Der Duden gibt das Wort als „selten vorkommend“ an und schreibt, dass der Begriff oft spöttisch verwendet wird. Für uns Christen ist der Begriff aber inzwischen fast eine Selbstverständlichkeit, besonders in der Gemeindewachstumsliteratur. Für Außenstehende ist er fremd. Es ist kein gutes Zeichen, wenn Menschen, von denen wir hoffen, dass sie zum Glauben finden, erst einmal unsere Sprache erlernen müssen. Das gilt – abweichend von meinem eigentlichen Thema – auch für solche Sätze wie: „Der Geist der Weissagung schreibt …“ Was stellt sich ein Außenstehender wohl darunter vor?
So bin ich einerseits zufrieden, auf ein vorhandenes Regelwerk zugreifen zu können, das mir bei Entscheidungen eine mögliche Antwort zeigt. Das habe ich in meiner Pastorentätigkeit ab und zu gebraucht. Andererseits, je detaillierter und je zahlreicher die Regeln werden, umso komplexer kann Gemeindeleben werden und umso weniger Gestaltungsfreiheit bleibt. Wir schauen leicht abschätzig auf die Juden zur Zeit von Jesus, die sich in einem selbstgemachten Regelwerk „regelrecht“ verfangen haben. Ehrlicherweise muss man einräumen, dass auch wir nicht davor gefeit sind. Je mehr Regeln es gibt, umso schwerer werden Reformen. Umso geringer wird der Spielraum zum kreativen Handeln. Junge Menschen sind nicht daran interessiert, nur den Staub von den Büsten der Vergangenheit zu wischen. Gibt es keinen Freiraum zur Entfaltung, wenden sie sich ab.
Wir bekennen uns bewusst zum Halten der 10 Gebote und bewundern Gott für seine Weisheit, so viele und wichtige Dinge in so wenigen Sätzen zusammengefasst zu haben, dass sie heute noch als Grundlage für gedeihliches Zusammenleben der Menschen dienen. Aber wir haben nicht nur ein umfangreiches Gemeindehandbuch zusammengestellt, an dem wir bei jeder Generalkonferenz ausgiebig arbeiten, sondern auch eine „Working Policy“, eine Art Arbeitshandbuch, das mit einer Fülle von Regeln aufwartet. Viele Gemeindeglieder haben das dicke Buch noch nie gesehen, es kann auch nicht im Buchhandel erworben werden. Aber es steht in den Regalen der Dienststellen und wird bei den Generalkonferenzen immer weiter bearbeitet. Die erste Ausgabe erschien 1926, 11 Jahre nach dem Tod von Ellen White, und hatte 26 Seiten. Im Verlauf der letzte 100 Jahre ist das gute Stück auf rund 800 (!) Seiten angewachsen.
Wie steht es mit den Glaubensgrundsätzen? Als der heimreisende äthiopische Finanzminister einen Anhalter mitnahm, dürfte er nicht schlecht gestaunt haben, als dieser ihm 28 Glaubensgrundsätze detailliert auseinandersetzen wollte, denn die wären vor einer Taufe unbedingt zu akzeptieren. Oder lief die Erläuterung von Philippus über das Kapitel 53 aus dem Jesajabuch, mit dem sich der Reisende gerade beschäftigte, doch anders ab?
Der von Ellen White 1852 in den Predigtdienst gerufene John N. Loughborough zählt mit zu den Gründervätern der Siebenten-Tags-Adventisten. Er fasste die Grundhaltung der „Pioniere“ im 19. Jahrhundert in einem am 8. Oktober 1861 erschienenen Artikel für „Review und Herald” (heute Adventist Review) so zusammen: „Der erste Schritt des Glaubensabfalls besteht darin, ein Glaubensbekenntnis aufzustellen, das uns sagt, was wir glauben sollen. Der zweite ist, dieses Glaubensbekenntnis zu einer Prüfung der Gemeinschaft zu machen. Der dritte Schritt ist, die Mitglieder anhand dieses Glaubensbekenntnisses zu prüfen. Viertens werden diejenigen, die nicht an dieses Glaubensbekenntnis glauben, als Ketzer verurteilt. Und fünftens, die Verfolgung gegen solche zu beginnen.“
Unser Glaubensbekenntnis ist schrittweise entstanden und der Hauptgrund, überhaupt eins aufzustellen, war, dass andere Kirchen verstehen können, was wir glauben. Dieser Zweck wird heutzutage definitiv erfüllt. Aber hatte der gute alte Loughborough wirklich ganz Unrecht? Je detaillierter und ausgefeilter die Regeln werden, um ausschließender können sie sein, umso weniger Menschen passen in den immer genauer definierten Rahmen. Je penibler wir alles beschreiben wollen, umso kleiner werden die Karos, umso weniger Menschen werden sich damit identifizieren. Ich halte diese Vorgehensweise nicht nur für unnötig, sondern auch für nicht hilfreich. Es soll Sicherheit schaffen, aber bei Jesus sehe ich etwas anderes. Würde Judas bei uns tatsächlich noch die Füße gewaschen und das Brot gereicht bekommen, oder hätte wir hin schon hinausdefiniert? Die Ergebnisse des Apostelkonzils wären mit einem ausreichend dicken Handbuch kaum denkbar gewesen.
Man kann auch in Sachen Glauben nicht alle fünfe grade sein lassen. Es muss Regeln geben, das steht fest. Ich wünsche mir jedoch etwas von der Haltung von John Loughborough zurück, der die Gefahr erkannt hatte, wenn man alles zu genau festlegen will. Hatte nicht der alte Prediger Salomo gesagt: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest?“ Ein weiser Mann war das.
Matthias Müller